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Detektivarbeit im Orbit - Wie Prof. Thomas Schildknecht die Geheimnisse des Weltraumschrotts lüftet (Teil 2)
Prof. Thomas Schildknecht widmet sein Lebenswerk der Erforschung von Weltraumschrott. Im Interview erzählt er von bahnbrechenden Entdeckungen, Detektivarbeit in Kombination mit Himmelsmechanik und wie die Uni Bern kleine, unsichtbare Teile im Erdorbit sichtbar macht.
Prof. Schildknecht, im ersten Teil dieses Interviews haben wir bereits sehr viel über Weltraumschrott gesprochen. Dazu wie er entsteht und welche Probleme er längerfristig auslöst. In diesem zweiten Teil des Interviews soll es darum gehen, wie man ihn wieder aufräumt und welche Voraussetzungen dazu erfüllt sein müssen.
Wenn man nicht weiss, wo er ist, kann man Schrott aber unmöglich aufräumen. In Ihrem Paper «Improving the knowledge of the orbital population: New technical means of space debris monitoring» haben Sie die verschiedenen Technologien übersichtlich zusammengefasst: Radar, passive Radiofrequenzbeobachtungen, passive optische Beobachtung, aktive optische Beobachtung und In-Situ-Monitoring.
Wenn Sie diese Technologien nach ihrem Alter sortieren müssten - von den ältesten bis zu den neuesten - wie würde die korrekte Reihenfolge lauten?
Ja, das ist natürlich eine Mischung. Ich muss sagen, die ältesten Technologien waren sicher passive optische Beobachtungen und Radar, vor allem im niedrigen Erdorbit (LEO). In den 1960er-Jahren hat man die ersten grossen Radaranlagen gebaut.
Aber das Allererste, noch vor dem Radar, waren tatsächlich astronomische Teleskope. Man hatte damals Kameras wie die sogenannten Baker-Nunn-Kameras, die mit Fotoplatten arbeiteten. Das war passiv optisch und gehört zu den ersten Technologien in diesem Bereich.
Diese beiden Technologien haben sich bis heute bewährt. Passive optische Beobachtungen werden vor allem für hohe Bahnregionen eingesetzt, während Radar im niedrigen Erdorbit genutzt wird, weil es unabhängig von Wetterbedingungen arbeiten kann. Wenn man zum Beispiel heute zum Fenster rausschaut, sieht man, dass das Wetter nicht ideal ist - genau da spielt Radar seine Stärken aus.
Passive optische Beobachtungen kommen aber auch immer öfter im LEO zum Einsatz, da sie vergleichsweise kostengünstig sind. Ein grosses Radar kann leicht eine Milliarde kosten, während optische Systeme deutlich günstiger sind, auch wenn die Preise für Radar mittlerweile sinken.
1. Die verschiedenen Orbit-Höhen. Am unbekanntesten ist der MEO. Hier sind z.B. die europäischen Galileo-Navigationssatelliten angesiedelt.
Als nächstes kamen wahrscheinlich die In-Situ-Technologien. Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre hat man die ersten Experimente mit solchen Systemen gemacht. Beispielsweise hat man Solarzellen von Satelliten wie Hubble wieder auf die Erde zurückgebracht, nicht speziell wegen der Solarzellen, sondern um Meteoriteneinschläge und später auch sehr kleine Teile von Weltraumschrott - im Millimeterbereich - zu untersuchen.
Diese In-Situ-Experimente waren vermutlich die zweite grosse Entwicklungsstufe. Danach hat man regelmässig Sensoren, sogenannte Dust-Sensoren, auf Satelliten installiert, um kleinste Partikel zu detektieren. Leider ist in den letzten 20 Jahren auf diesem Gebiet wenig passiert, sodass wir gerade in dieser Grössenordnung relativ wenige Daten haben.
Neuere Entwicklungen, wie In-Situ-Optik, kommen jetzt langsam auf. Dabei handelt es sich um kleine Teleskope auf Satelliten, die ebenfalls dazu beitragen könnten, kleinere Objekte zu detektieren. Das wäre also die nächste Stufe in der Entwicklung.
Aktive optische Technologien, das heisst Laserdistanzmessungen, wie sie für die Beobachtung von Weltraumschrott eingesetzt werden, sind die jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich.
Ah, und jetzt habe ich die Radiofrequenz (RF)-Technologie fast ausgelassen. Die RF-Geschichte ist natürlich eine spezielle. Passive RF funktioniert auf zwei unterschiedliche Arten.
Die erste Variante ist, dass man sich einfach anhört, was die Satelliten senden. Dabei muss man nicht verstehen, was sie senden, sondern lediglich die Signale empfangen. Von zwei Standorten aus kann man die Signale triangulieren. Das ist eine Form von passivem RF, aber sie funktioniert nur für aktive Satelliten. Für das Militär ist das natürlich interessant, für die Überwachung von Weltraumschrott allerdings weniger.
Die zweite Variante ist, dass man in der Nähe einen starken Sender hat, wie etwa ein Radar, das seitlich abstrahlt. Der Beobachter selbst sendet nichts aus, sondern hört nur die Echos, die von diesem Radar reflektiert werden. Mit dieser Methode ist es ebenfalls möglich, Weltraumschrott zu detektieren. Allerdings ist das eine Technologie, die relativ jung ist und erst in den letzten Jahren verstärkt entwickelt wurde.
Interessant! Jede dieser Technologien ist also für eine ganz spezifische Orbit-Höhe geeignet. Welche dieser Technologien kommt denn auf der Ground Station Zimmerwald, Ihrem Arbeitsplatz, zum Einsatz?
In Zimmerwald nutzen wir zwei Technologien, passiv optisch natürlich - und das schon seit Urzeiten, seit 1956 oder 1957.
Noch vor allen anderen in diesem Forschungsbereich tätigen Gruppen?
Ja, tatsächlich waren wir in Zimmerwald in dieser Hinsicht Vorreiter, weil der damalige Direktor [Max Schürer 1910-1997] sehr an Himmelsmechanik interessiert war. Als die ersten künstlichen Objekte ins All kamen, war das aus Sicht der Himmelsmechanik eine unglaublich spannende Entwicklung. Bis dahin hatte man keine geozentrischen Bahnen berechnet, sondern sich auf Planetenbahnen konzentriert.
Für Schürer war das derart faszinierend, dass er die Beobachtung künstlicher Objekte fördern wollte. Deshalb begann man schnell mit passiven Beobachtungen - was mit Fotomaterial, also Fotoplatten, sehr herausfordernd war, wenn man bedenkt, dass es damals nichts Digitales gab.
Ab Mitte der 1970er-Jahre führte man vom Observatorium in Zimmerwald aus [auch bekannt als «Ground Station Zimmerwald»] dann aktiv optische Messungen durch, allerdings nicht für Weltraumschrott, sondern für Satelliten mit Reflektoren.
Seit 1984, damals war ich gerade in meinem Lizentiat [heute Master], betreiben wir regelmässig präzise Distanzmessungen zu solchen Satelliten mit Laserreflektoren.
Für Weltraumschrott ist das natürlich wesentlich anspruchsvoller, da diese Objekte keine reflektierenden Elemente haben, sondern das Licht nur diffus zurückstreuen. Dafür benötigt man deutlich stärkere Laser. Und solche betreiben wir tatsächlich erst seit den letzten, sagen wir, zehn Jahren, vielleicht etwas länger.
Wie muss man sich solche Laserreflektoren genau vorstellen? Ungefähr so, wie «Katzenaugen»? Handelt es sich dabei wirklich um etwas, das aktiv verbaut werden muss? Und das wirft natürlich die Frage auf, ob man sie tatsächlich mit ins All schickt - schliesslich bedeutet dies zusätzliches Gewicht, das vielleicht für andere Zwecke genutzt werden könnte. Oder sind sie leicht genug, um diesen Kompromiss zu rechtfertigen?
Ja, sie sind relativ leicht, aber trotzdem teuer. Wenn man sie nicht verbaut, spart man tatsächlich Kosten. Ein weiterer Punkt ist der Platz: Die Oberflächen von Satelliten sind oft schon voll mit anderen Komponenten. Zudem stellt sich für viele Satellitenbetreiber die Frage, warum sie so etwas einbauen sollten, wenn sie selbst keine extrem genaue Bahnbestimmung benötigen, die durch solche Messungen ermöglicht wird. Es gibt für sie schlicht keinen direkten Nutzen.
Allerdings gibt es Bestrebungen - ob das der richtige Weg ist, sei dahingestellt - solche sogenannten «Tracking-Aids» verpflichtend zu machen. Das sind Hilfsmittel, die das Verfolgen von Objekten im Orbit erleichtern, auch wenn sie nicht mehr aktiv sind. Retroreflektoren, also die «Katzenaugen», sind eine Möglichkeit. Aber es könnten auch andere Technologien sein, wie z.B. Systeme, die das Verfolgen mit Radar vereinfachen.
Mittlerweile ist es auch möglich, Satelliten anhand winziger, eingebauter LEDs zu identifizieren, oder?
Ja, genau, solche Satelliten gibt es tatsächlich, und wir hatten bereits Gelegenheit, an entsprechenden Projekten mitzuwirken. Beispielsweise wurden CubeSats mit LED-Lichtmustern entwickelt, die teils immer noch genutzt werden.
Einer der ersten Satelliten mit dieser Technologie war der sogenannte LEDSAT der Universität Rom, La Sapienza.
Das Projekt liegt allerdings schon einige Jahre zurück - es handelte sich um ein Studentenprojekt, das damals einen Preis gewann. Unsere Aufgabe war es, bei der Beobachtung zu unterstützen.
Gut, Sie können ja [mit dem Equipment in Zimmerwald] Objekte mit einer Helligkeit von bis zu Magnitude 19 erkennen. Ist es da nicht relativ unkompliziert, LEDs zu detektieren?
Ja, das ist tatsächlich relativ einfach für uns. Das Hauptproblem [für die Konstrukteur*innen dieser Satelliten] liegt eher darin, dass die LEDs, die leuchten sollen, relativ viel Strom benötigen. Das ist vor allem bei kleinen Satelliten eine Herausforderung.
Aber, um ehrlich zu sein, Magnitude-19-Objekte konnten Sie in Zimmerwald bereits seit der Ära 2002 - 2006 beobachten. Der für das blosse Auge sichtbare Bereich liegt ja bei etwa Magnitude 6. Magnitude 19 ist daher für Hobby-Astronom*innen durchaus beeindruckend. Könnten Sie das für uns zusätzlich in einen wissenschaftlichen Kontext setzen? Das scheint auch für Sie und Ihr Team eine bemerkenswerte Leistung zu sein, nicht wahr?
[beide lachen] Das ist tatsächlich sehr gut. Wenn man bedenkt, dass Amateurastronomen mit einem 50-cm-Teleskop oder Astronominnen mit einem 1-m-Teleskop oft 10 Minuten lang belichten, diesen Vorgang 100 Mal wiederholen - also stundenlang belichten - und die Aufnahmen anschliessend «stacken» um solche Objekte sichtbar zu machen, dann ist das schon nur eine ganz andere Herangehensweise.
Bei der Beobachtung von Weltraumschrott können wir das nicht machen. Unsere Belichtungszeiten liegen normalerweise bei nur 2 bis 3 Sekunden. Magnitude 19 in so kurzer Zeit zu erfassen, ist definitiv keine Kleinigkeit.
Allerdings muss ich Ihnen gestehen, dass wir diese Beobachtungen bis Magnitude 19 oder 20 gar nicht in Zimmerwald oder auf der Uecht durchgeführt haben. Ich weiss, das sollte ich vielleicht nicht sagen - es klingt nicht optimal - aber es liegt an unseren Standortbedingungen.
Wir befinden uns [hier in der Schweiz] nicht hoch genug über dem Meeresspiegel, was bedeutet, dass wir mit zu viel Wasserdampf in der Atmosphäre zu kämpfen haben. Zudem sind wir in Mitteleuropa, wo es auch immer wieder gewisse Lichtverschmutzung gibt. Wir könnten jetzt die Lichtglocke von Mailand dafür verantwortlich machen oder andere Gründe anführen. Fakt ist jedoch, dass wir solche hochsensiblen Beobachtungen vor allem in Teneriffa durchgeführt haben.
Ah, also mit dem 1-Meter-Teleskop der «Optical Ground Station» [in Teneriffa]»? Das wurde ja speziell zu diesem Zweck gebaut, oder? Das heisst, es wurde eigens konstruiert, um Weltraumschrott verfolgen zu können. Liege ich da richtig?
Ja, also ich muss das etwas differenzieren. Das Teleskop selbst wurde nicht ausschliesslich für die Verfolgung von Weltraumschrott genutzt, sondern auch für optische Kommunikation, also beispielsweise für die Kommunikation mit geostationären Satelliten mittels Laser.
Aber die gesamte Ausrüstung am Teleskop - die Kamera und die speziell angefertigte Optik - wurde tatsächlich für die Beobachtung von Weltraumschrott entwickelt. In den 1990er-Jahren wurde das Ganze designt und gebaut. Zeiss hat das Teleskop hergestellt, und wir waren an der Entwicklung der Kamera beteiligt.
Insbesondere hat die Universität Bern die Software geschrieben, um die Bilder auszuwerten, die Beobachtungen zu planen, das Teleskop zu steuern und letztlich die Bilder zu analysieren.
Im Jahr 1999 hatten wir dann erstmals verwertbare Aufnahmen, die wir damals noch auf Magnetbändern speichern mussten!
Organisieren Sie dann immer eine Art «Ferien-Ausflug» nach Teneriffa, wenn Sie dieses Teleskop nutzen möchten, oder läuft das doch alles remote?
Jein. Also ja, es läuft schon alles remote. Aber es ist ein altes Teleskop, ein grosses Zeiss-Modell, und es braucht immer noch Beobachterinnen und Beobachter vor Ort, die es in der Nacht bedienen. Das Teleskop kann nicht komplett remote gestartet werden, und es gibt einfach Dinge, die von Hand gemacht werden müssen. Das übernehmen sie für uns.
Wir selbst fahren leider nie runter - ich war schon lange nicht mehr dort. Wir schicken ihnen Pläne, was zu tun ist, und sie überwachen dann auch die Auswertungen in der Nacht. Sie machen noch deutlich mehr von Hand, als wir in Zimmerwald, weil in Zimmerwald alles vollautomatisch läuft.
Zusammenfassend kann mal also schon sagen, dass das AIUB [Astronomisches Institut der Universität Bern] sich auf optische Systeme für «Subcatalog Space Debris» spezialisiert hat.
Die Universität Bern hat einen klaren Schwerpunkt auf die Beobachtung von kleinen Trümmerteilen gelegt, die sonst niemand so genau messen kann, oder? Sie und Ihr Team am Observatorium Zimmerwald gelten als Spezialist*innen auf diesem Gebiet, richtig?
Das ist korrekt. Wir konzentrieren uns nicht auf das, was bereits in den Katalogen erfasst ist, sondern auf die Objekte, die sonst niemand messen kann. Unser Ziel ist zweigeteilt: Einerseits möchten wir wissen, wie viele Trümmerteile es überhaupt gibt - rein statistisch gesehen. Das betrifft besonders die hohen Umlaufbahnen wie den geostationären Orbit [GEO]. Dort geht es darum, die tatsächliche Anzahl zu ermitteln, da die bestehenden Kataloge nur einen kleinen Bruchteil der Objekte abdecken.
Ich vergleiche das manchmal mit der Analyse von Schadstoffen auf der Erde: Man überprüft Wasser auf bekannte Stoffe wie Atrazit oder andere Chemikalien. Aber dann beginnt man, nach bisher unbeachteten Substanzen zu suchen, und stellt plötzlich fest, dass es in der Probe z.B. Mikroplastik gibt, das man zuvor nicht auf dem Radar hatte.
Das erinnert doch stark an diesen Vorfall vor einigen Jahren, als man in einer Quelle, die bis dahin als besonders rein gegolten hatte, plötzlich etwas gefunden hat - obwohl sie immer als das reinste Wasser galt, das man verwenden konnte.
Genau, das ist ein bisschen unser Ansatz: Man muss zunächst wissen, was überhaupt da ist, wo die Probleme liegen und wie sie entstehen. Das ist eines der Hauptziele dieser Subkatalog-Arbeiten.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt darauf, die Bahnen dieser Objekte genauer zu verfolgen. Wenn wir sie nur einmal kurz vorbeiflitzen sehen, können wir zwar grob abschätzen, auf welcher Bahn sie sich befinden, aber das reicht nicht aus, um zu identifizieren, ob es sich beispielsweise um eine Solarzelle, ein Stück Isolationsfolie oder etwas anderes handelt.
Nur durch solch detaillierte Analysen konnten wir damals feststellen, dass die Isolationsfolien ein echtes Problem darstellen, weil sie sich gelöst haben.
Das war einer der grossen Meilensteine im Verlauf Ihrer Wissenschaftlichen Karriere, nicht wahr?
Ja, retrospektiv hat sich das wie eine richtige Detektivgeschichte entwickelt und letztendlich grossen Einfluss auf die Forschung anderer sowie auf Überlegungen zur Alterung von Materialien gehabt.
Wir sind damals, um 2004, auf seltsame Teile in Umlaufbahnen gestossen, die sich nicht erklären liessen. Diese Bahnen waren weder geostationär noch im «Low Earth Orbit», sondern hatten eine Umlaufzeit von einem Tag und liefen auf exzentrischen, also stark elliptischen Bahnen.
Wir haben uns gefragt, ob es dort Mutterobjekte geben könnte, die möglicherweise Probleme hatten und diese Teile freigesetzt haben. Aber wir fanden nichts. Die Umlaufzeit von einem Tag deutete zwar auf eine geostationäre Bahn hin, aber niemand platziert bewusst Satelliten auf solche elliptische Bahnen. Als wir die Objekte dann weiterverfolgten, stellten wir fest, dass sich ihre Bahnen veränderten - die Exzentrität schwankte innerhalb eines Jahres zwischen kreisförmig und wieder exzentrisch.
Mit Hilfe der Himmelsmechanik wurde klar, dass es sich dabei um extrem leichte Objekte handeln musste, die stark vom Strahlungsdruck beeinflusst wurden. Das war eine spannende Entdeckung!
Und als was haben sich die Objekte schlussendlich entpuppt?
Naja, die Sonnenstrahlung übt einen so starken Druck auf diese Objekte aus, dass sie in exzentrische Bahnen geraten und hin- und herschwingen. Das war wirklich eine bahnbrechende Entdeckung. Heute sind diese Objekte als «HAMR-Objekte» bekannt, was für «High-Area-to-Mass Ratio» steht - also ein grosses Flächen-zu-Masse-Verhältnis. Das bedeutet, es handelt sich um sehr leichte Teile mit einer grossen Fläche.
Mit grösster Wahrscheinlichkeit, das haben wir später durch Spektroskopie herausgefunden - obwohl wir auch heute nicht ganz sicher sein können - handelt es sich dabei um Isolationsfolien.
Die Dimensionen sind vergleichbar mit einem A4-Blatt Papier, das etwa 80 Gramm pro Quadratmeter wiegt, also rund 12 Quadratmeter pro Kilogramm. Aber die Objekte, die wir gefunden haben, waren noch leichter: Sie hatten ein Verhältnis von riesigen 20 Quadratmetern pro Kilogramm, also noch viel leichter als ein Blatt Papier. Da stellt sich die Frage: Was könnte da noch infrage kommen?
Beeindruckend! Könnte man diese Entdeckung als eine Ground-Station-Zimmerwald-Entdeckung bezeichnen?
Ja, man könnte sagen, es war eine Berner Entdeckung, da die Objekte zwar in Teneriffa entdeckt wurden, aber in Zimmerwald nachverfolgt. Erst durch die Nachverfolgung konnten wir die Bahnen bestimmen, ihre elliptische Form und die Oszillationen feststellen.
Unsere Stärke lag dabei in der Kombination von Beobachtungen und unserem fundierten Hintergrund in Himmelsmechanik. Diese Verbindung hat es uns ermöglicht, die Phänomene nicht nur zu beobachten, sondern auch auszuwerten. Das war sicher ein Highlight meiner Arbeit.
Später haben wir dann auch Techniken entwickelt, um aus Lichtkurven Taumelbewegungen zu analysieren - ein weiteres Gebiet, in dem wir Pionierarbeit geleistet haben.
Solche Lichtkurven Beobachtungen wären auch ein Anwendungsgebiet, für welches man unser Hugo-Mathys-Teleskop, hier auf der Uecht einsetzen könnte, nicht wahr?
Absolut. Mit dem Hugo-Mathys-Teleskop würde ich nicht unbedingt versuchen, die kleinsten Teile in 4'000 km Entfernung zu suchen - dafür ist es nicht optimal ausgelegt. Stattdessen würde ich einen ganz anderen Ansatz verfolgen.
Ein spannendes Einsatzgebiet wäre beispielsweise die Analyse von Lichtkurven, also die Beobachtung, wie die Helligkeit eines Objekts schwankt. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Lagebewegung des Objekts ziehen - etwa, ob es taumelt und wie genau diese Bewegung aussieht.
Das ist für viele Anwendungen entscheidend: Bei einem aktiven Satelliten, von dem plötzlich kein Signal mehr kommt, könnte man so erkennen, ob er noch intakt ist und wie er sich bewegt. Auch für Missionen wie «Clearspace One», die Schweizer ESA-Mission zur Bergung von Weltraummüll, ist diese Information essenziell. Bevor ein solches Objekt eingefangen werden kann, muss bekannt sein, ob und wie es rotiert, um es sicher greifen zu können.
Ein weiteres spannendes Projekt könnte sein, einen kleinen Spektographen am Teleskop anzubringen. Damit könnte man das Licht eines Objekts in seine Spektralfarben zerlegen, um die Materialien zu analysieren.
Das wäre besonders interessant für Bruchstücke. So könnte man herausfinden, ob ein bestimmtes Fragment durch eine Explosion, Alterungsprozess oder andere Ursachen entstanden ist. Das ist nicht nur für die Analyse eines einzelnen Fragments spannend, sondern liefert wertvolle Informationen über die Entstehung und den Zustand von Weltraumschrott insgesamt.
Für solche Anwendungen ist das Teleskop absolut geeignet.
8. Prof. Thomas Schildknecht (links) bei der Verleihung des T.S. Kelso Awards zur Würdigung seines Lebenswerks in den Bereichen Weltraumschrott, Weltraumsicherheit und Weltraumnachhaltigkeit
Wer weiss, vielleicht fliessen solche Daten irgendwann einmal sogar in ein Paper ein!
Ja, denn genau darin liegt die Stärke solcher Beobachtungen: Mit präzisen Lichtkurven und Materialanalysen können wir nicht nur die Vergangenheit von Objekten im Orbit rekonstruieren, sondern auch die Zukunft der Raumfahrt nachhaltiger gestalten. Jedes neue Puzzlestück, das wir finden - sei es ein taumelndes Bruchstück oder eine alternde Isolationsfolie - bringt uns dem Ziel näher, den Weltraum sicherer und sauberer zu machen.
Am Ende ist es genau diese Mischung aus Beobachtung, Analyse und Innovation, die uns weiterbringt und aus der Wissenschaft echte Detektivarbeit macht.
Bilder
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Illustration Orbit-Höhen. Eigenproduktion.
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Übersichtstabelle Beobachtungsmethoden. Eigenproduktion.
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ZIMLAT. Aus: Universität Bern, "AIUB - Observatorium Zimmerwald / Teleskope / ZIMLAT," 2024. (aiub.unibe.ch/forschung/observatorium_zimmerwald/teleskope/index_ger.html)
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LEDSAT. Aus: G.D. Krebs, " "LEDSAT". Gunter's Space Page," 14.01.2023. (space.skyrocket.de/doc_sdat/ledsat.htm)
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Optical Ground Station in Teneriffa. (esa.int/Enabling_Support/Space_Engineering_Technology/Space_Optoelectronics/Optical_Ground_Station_OGS)
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OGS Zeiss Teleskop. Aus: Maria, Josep et al., "IAC-07-B2. 3.05 QUANTUM COMMUNICATIONS AT ESA: TOWARDS A SPACE EXPERIMENT ON THE ISS," 2007, pp. 24-28.
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Anwendung von Isolationsfolien. Aus: S. Channumsin, "deformation model of flexible, high area-to-mass ratio debris under perturbations and validation method," PhD Thesis at the University of Glasgow, August 2016, pp. 1-162.
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T.S. Kelso Award Verleihung. Aus: Space Data Association, "Prof. Dr. Thomas Schildknecht wins Space Data Association's T.S. Kelso Award," 25.11.2024. (space-data.org/sda/news/prof-dr-thomas-schildknecht-wins-space-data-associations-t-s-kelso-award)
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