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Nochmal davongekommen - Ertrinken im Weltraum (Teil 1)

Seit dem Jahr 2000 war das Reiseziel aller Astronaut*innen die ISS. Auch der neu ins Astronautencorps aufgenommene Marco Sieber wird zwischen 2026 und 2030 dort forschen. Die ISS ist und bleibt aber trotz ihres inzwischen fast 24-jährigen bemannten Betriebs ein durchaus gefährlicher Arbeitsplatz.

Unten auf der Erde schrieb man den 16. Juli 2023. Im Orbit hatte der italienische ESA-Astronaut Luca Parmitano bereits 45 Minuten seines zweiten Weltraumspaziergangs absolviert. Rein zufällig bewegte er seinen Kopf innerhalb des Helmes leicht nach hinten und fühlte plötzlich etwas Nasses am hinterkopf. Zwar steht Astronaut*innen innerhalb ihres Raumanzuges, dem sogenannten EMU (Extravehicular Mobility Unit), ein Trinkbeutel zur Verfügung (siehe Abbildung 1).

1. Bestandteile eines EMUs.

Allerdings nahm die Wassermenge im Helm weiterhin zu, auch nachdem Luca den Trinkbeutel leergetrunken und probehalber einige Schlucke von der herumschwebenden Flüssigkeit aufgesogen hatte. Die Flüssigkeit schmeckte merkwürdig. Luca wusste sofort, dass etwas nicht normal war. Dennoch fühlte sich der ehemalige Kampfjetpilot primär verärgert und nicht panisch.

Die schwerelosen Wasserblasen wurden zunehmend grösser und klebten sich z.B. an Lucas Stirn. Irgendwann was es so viel Wasser, dass sogar der zweite anwesende Astronaut - der US-Amerikaner Christopher Cassidy - es sehen konnte. Kurz danach wurde beschlossen, den Weltraumspaziergang frühzeitig abzubrechen.

Dennoch legte Luca den Rückweg zur Luftschleuse selbstständig zurück. Unterwegs musste er sich vertikal um 180° drehen, so dass Füsse und Kopf ihre Plätze tauschten. Gleichzeitig ging zufällig die Sonne unter, alles wurde in undurchdringliche Dunkelheit getaucht. Gleichzeitig lief ihm wegen der Drehung Wasser über seine Augen und in die Nasenlöcher. Er war nun also blind und konnte nur noch durch den Mund atmen.

Trotzdem gelang es ihm, die doch noch aufkommende Angst «in das Finden einer Lösung zu kanalisieren und nicht in Panik auszubrechen.» Tatsächlich gelang es ihm, sich noch aus eigener Kraft in die Luftschleuse zu hieven, wohin ihm nach kurzer Zeit Kollege Cassidy folgte. Bis man Luca nach erfolgreichem Druckausgleich in der Raumstation den Helm abnehmen konnte, nahm der Wassergehalt darin aber weiter zu.

2. Ein erschöpft wirkender Luca Parmitano (links) mit zugeklebten Augen. Christopher Cassidy (rechts) schwebt derweil in der Luftschleuse und wartet.

3. Video-Ausschnitt von Luca Parmitanos zweitem EVA.

Womöglich hätte das «Projekt» ISS an diesem Julitag sein erstes Todesopfer gefordert, hätte Luca sich nicht den Kopf frisch rasiert gehabt. Unter dem Helm tragen Astronaut*innen nämlich eine Stoffkappe mit eingenähten Kopfhörern und Mikrofonen, die sie zur Kommunikation mit der Welt ausserhalb ihres Anzuges benötigen.

Das Gewebe dieses «Comm-Cap» hatte zunächst relativ viel Wasser aufgesogen und Haare hätten mit Sicherheit dazu geführt, dass er das Wasser viel später gespürt hätte. Dank Lucas nackter Kopfhaut bliebt den anderen Astronaut*innen schlussendlich aber genügend Zeit, um ihn aus seinem Anzug zu befreien und damit vor dem Ertrinken zu bewahren (siehe Abbildung 2).

Ob dieser Zufall ihm tatsächlich das Leben gerettet hat und ob das ein Grund für den Glatzen-Trend unter erfahrenen Astronauten ist (auch Alexander Gerst hat eine Glatze!), sei dahingestellt. Sicher ist jedoch, dass Luca Parmitano ohne sie heute vermutlich nicht Astronauten-Anwärter durch das Houston Space Center führen könnte (siehe Abbildung 4).

Unmittelbar nach dem Vorfall wurden sämtliche Weltraumspaziergänge mit EMUs für mehrere Monate ausgesetzt. Warum das eine weise Entscheidung war und wie das Weltraumanzug-Problem schlussendlich gelöst wurde, erfahrt ihr in Teil 2.

4. Wenn deine Glatze dir das Leben rettet: Luca Parmitano (rechts) und Alexander Gerst (links) jeweils mit Glatze. Marco Sieber mit Schnauz in der Mitte.

Hier geht's zur Originalerzählung von Luca Parmitano in der er seine Erlebnisse schildert, aufgenommen durch die BBC: «I Nearly Drowned in Space».

Bilder
 

  1. Bestandteile eines EMUs von NTRS - NASA Technical Reports Server. (ntrs.nasa.gov/citations/20140009556)
  2. Screenshot von Luca Parmitano und Chris Cassidy in "ISS Expedition 36 - US Spacewalk EVA #23 Is Aborted Early Due To A Suit Water Leak, July 16, 2023." (youtu.be/9vk_UdxAH_g)
  3. Travis, M. "ISS Expedition 36 - US Spacewalk EVA #23 Is Aborted Early Due To A Suit Water Leak, July 16, 2023." (youtu.be/9vk_UdxAH_g)
  4. ESA. "ESA astronauts and astronaut candidates at NASA's Johnson Space Centre," SCIENCE & EXPLORATION - Houston, you've got visitors. 20. Dezember 2023.

Quellen
 

  • Chang, K. (21. Dezember 2013). "NASA Solves Helmet Leak With Makeshift Snorkels." The New York Times. (nytimes.com/2013/12/21/science/space/makeshift-snorkels-are-low-tech-solution-to-space-helmet-leak.html)
  • ESA. (n.d.) SCIENCE & EXPLORATION - Luca Parmitano. (ESA). (esa.int./Science_Exploration/Human_and_Robotic_Exploration/Astronauts/Luca_Parmitano)
  • Parmitano, L. S. (14. Dezember 2015). "I Nearly Drowned in Space." BBC News. (bbc.co.uk/programmes/p03c29h6)
  • sda/zero, & schn. (22. April 2024). Flug zur ISS auf sicher: Marco Sieber ist offiziell Astronaut. (SRF 4 News). (srf.ch/news/schweiz/abschluss-der-grundausbildung-flug-zur-iss-auf-sicher-marco-sieber-ist-offiziell-astronaut)
  • Uri, J. (23. Januar 2020). Space Station 20th: Historical Origins of ISS. (NASA - Johnson Space Center). (nasa.gov/history/space-station-20th-historical-origins-of-iss)

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